Die Geschichte der Erforschung des chemischen Universums
Heute bin ich auf eine interessante Veröffentlichung über die Geschichte der Chemie gestoßen, genauer gesagt, über die Entdeckung neuer chemischer Strukturen. Spannend finde ich das, weil Strukturdatenbanken die grundlegende Ressource meines Doktorarbeitsthemas waren, und weil neue chemische Moleküle immer auch das Potential für die Entwicklung neuer Medikamente bieten.
Um die wissenschaftlichen Entdeckung der Chemie aus mehr als 200 Jahren zu analysieren, haben die Autoren natürlich nicht tausende Veröffentlichungen gewälzt, sondern die Geschichte der Chemie mit einem vollständig datengetriebenen Ansatz aufgerollt. Soll heißen, sie haben sich die größte Reaktionsdatenbank geschnappt, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und in der sich etwa 42 Millionen Reaktionen mit über 20 Millionen Substanzen befinden, und darauf eine Menge Statistiken berechnet.
Das „chemische Universum“ umfasst alle möglichen chemischen Strukturen, von kleinen Molekülen wie Wasser, bis zu riesigen Molekülen wie Proteinen. Dazu zählen sowohl Substanzen, die auf natürliche Weise vorkommen, aber auch Substanzen, die chemisch synthetisiert werden müssen, das heißt durch eine Reaktion von zwei oder mehreren Verbindungen hergestellt werden. Jedes Jahr dehnt sich das „chemische Universum“ um 4,4 Prozent aus, das heißt, jedes Jahr werden 4,4 Prozent neue chemische Strukturen entdeckt; davon etwa die Hälfte durch Synthese. Und das relativ konstant seit 1800. „Relativ“, weil dieses Wachstum natürlich auch Schwankungen unterlag, unter anderem durch gesellschaftliche, aber auch durch wissenschaftliche Ereignisse.
Die drei Zeitalter der Strukturchemie
Wissenschaftlich lassen sich in den Daten drei verschiedene Perioden erkennen, deren Übergänge sich überraschenderweise ziemlich scharf abtrennen lassen: das protoorganische, das organische und das organometallische „Zeitalter“. Während der Übergänge zwischen den Zeitaltern waren die Wachstumsraten leicht gestört, aber die Chemie kehrte schnell zu ihrem Wachstumstrend von 4,4 Prozent zurück.
Im protoorganischen Zeitalter (1800–1860) und vor allem in den ersten Jahren, schwankte die jährliche Wachstumsrate noch recht stark. In diesem Zeitalter dominierten anfangs Kohlenstoff- und Wasserstoff-Verbindungen, später Verbindungen auf Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- und Halogenbasis. In dieser Zeit wurde der chemische Raum noch hauptsächlich durch Extraktion von Substanzen aus tierischen und pflanzlichen Produkten erweitert; Synthese fand wenn, dann basierend auf typisch anorganischen Verbindungen statt.
Im zweiten Zeitalter, dem organischen Zeitalter (1861–1980), wurden neue Substanzen bereits mit einer viel größeren Regelmäßigkeit entdeckt. Diese Regelmäßigkeit lässt sich wissenschaftlich auch mit der Einführung der Valenz- und Strukturtheorie in Verbindung bringen, die die Forschung in der organischen Chemie um 1860 veränderte. Ab da gingen die Chemiker in ihrer Arbeit wesentlich planmäßiger vor und die Neuentdeckungen waren dadurch weniger vom Zufall bestimmt als in der Epoche zuvor.
Im organometallischen Zeitalter (1981-heute) erlebten die Metallverbindungen ein Revival, sowohl als Ausgangsstoffe als auch als Endprodukte chemischer Reaktionen. Zehn Prozent der neuen Verbindungen basierten auf Platinmetallen. Siliciumverbindungen, bisher kaum beachtet in der Geschichte der Chemie, wurden zu Stars. Noch stärker als in der vorherigen Epoche wurde regelmäßig eine Verbindung nach der anderen synthetisiert. Ab etwa 1995 gewannen vor allem bioorganische Verbindungen an Interesse.
Das „Abgrasen“ des chemischen Universum
Interessanterweise wurden nicht nur neue Strukturen entdeckt, sondern auch neue Stoffzusammensetzungen, also die Menge an Elementen, aus denen die Moleküle bestehen (unabhängig von deren Verhältnis, vgl. Summenformel). Unangefochten auf Platz 1 stehen seit 1890 die Substanzen, die sich rein aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff zusammensetzen. Alles in allem wurde das „chemische Universum“ also bisher eher ohne rechten „Plan“ abgegrast. Nur wenige der Stoffzusammensetzungen sind überhaupt ausführlich untersucht.
Einfluss gesellschaftlicher Ereignisse: Chemie in Zeiten der Weltkriege
Wie zu erwarten, hatten die beiden Weltkriege einen drastischen Einfluss auf die Wissenschaft und führten zum vorübergehenden Einbruch in der Anzahl der neu entdeckten chemischen Substanzen. Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs waren besonders verheerend, insbesondere weil sich die chemische Industrie und Forschung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf Deutschland konzentrierte. Im Nachhinein führte der Krieg zu einem raschen Aufstieg der Chemie in anderen Ländern, insbesondere den USA. Vielleicht auch deshalb waren die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Anzahl chemischer Neuentdeckungen weniger stark zu spüren. Nach beiden Kriegen erholte sich die chemische Forschung (so wie auch andere Forschungsgebiete) von diesen Rückschlägen relativ schnell und kehrte zu ihrer Wachstumskurve von etwa 4,4 Prozent pro Jahr zurück.
Die Kriege führten aber auch zu einer Verlagerung der chemischen Forschung. Während des Ersten Weltkriegs nahm unter anderem die Bedeutung von Arsen-, Antimon- und Bismut-Verbindungen zu, während die von Aluminium, Gallium, Indium und Thallium abnahm. Das Interesse an Arsen-Verbindungen erklärt sich vermutlich durch die verschiedenen im Ersten Weltkrieg entwickelten Arsen-Kampfstoffe. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Stickstoffverbindungen und Alkalimetalle zunehmend uninteressant, während Schwefel, Bor, Phosphor und Silicium an Interesse gewannen. Phosphorverbindungen wurden vor allem relevant, als ihr Rolle in alltäglichen Anwendungen und als neuartige Insektizide und andere industrielle Materialien bekannt wurde.
Die Lieblinge der Chemiker
Interessanterweise, waren und sind die Chemiker recht konservativ bei der Wahl ihrer Ausgangsstoffe. Die meisten Substrate werden nur ein einziges Mal als Ausgangsstoff verwendet; die „Lieblingsstoffe“ jedoch immer wieder. Ein möglicher Grund ist sicher die leichte Verfügbarkeit dieser Substanzen. In der Tat umfassen die meisten Reaktionen typischerweise zwei Ausgangsstoffe: eine weniger bekannte Substanz und einen „Klassiker“ aus dem Synthesewerkzeugkasten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren vor allem starke Säuren und Basen beliebt, später vor allem organische Substanzen. Einer der Topstars ist Essigsäureanhydrid, das 1852 synthetisiert wurde und seit 1880 besonders gern für Acetylierungsreaktionen verwendet wird. Eine Acetylierung ist der Austausch von einem Wasserstoffatom durch eine Acetylgruppe (C2H3O), wobei entsprechende Verbindungen entstehen (zum Beispiel Aceton, Heroin oder Himbeerketon, die Hauptgeruchskomponente von Himbeeren).
Wie geht’s weiter?
Alles in allem wirft die Studie die Frage auf, warum die Chemie trotz gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Störfaktoren eine so stabile Wachstumsrate von 4,4 Prozent beibehält? Die Forscher basteln derzeit an formalen Modellen, um diese Frage weiter zu untersuchen. Ich bin gespannt!
Exploration of the chemical space and its three historical regimes.
EJ Llanos, W Leal, DH Luu, J Jost, PF Stadler, G Restrepo.
Proc Natl Acad Sci USA, pii: 201816039, 2019